Hypothese zu Depression widerlegt – keine Frage von Serotonin
Die gängige Annahme, dass eine Depression aus einer verminderten Serotoninkonzentration oder ‑aktivität resultiert, hat sich laut einer Analyse von Forschungsergebnissen nicht bestätigt (1).
Eine verbreitetete Hypothese ist, dass Depressionen durch ein Ungleichgewicht der Serotoninkonzentration verursacht wird. Diese Annahme bildet die Grundlage für den Einsatz gängiger Antidepressiva.
Rechtfertigung für den Einsatz von Antidepressiva
Die Hypothese, dass Depressionen durch ein chemisches Ungleichgewicht, v.a. von Serotonin verursacht werden, besteht seit den 60er Jahren (2) und dient als eine wichtige Rechtfertigung für den Einsatz von Antidepressiva. Spätestens mit Einführung der selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-hemmer (SSRI), d.h. der Antidepressiva in den 90er-Jahren, hat sich diese Theorie fest in der Medizin etabliert (3).
Trotz jüngster Kritik [5, 6], vertreten nach wie vor führende Forscher diese These [4,5,6) und ein Großteil der empirischen Forschung beruht auf ihr (6,7,8,9)]. Umfragen zufolge halten es 80 Prozent der Öffentlichkeit für erwiesen, dass Depressionen auf ein «chemisches Ungleichgewicht» zurückzuführen sind (10,11). Auch viele Allgemeinmediziner vertreten diese Ansicht [12], und auf beliebten Websites wird diese Theorie häufig zitiert [13).
Mangel an wissenschaftlichen Belegen
Die Tatsache, dass Antidepressiva Wirkung zeigen, scheint auch dafürzusprechen. Wissenschaftliche Belege dafür gibt es aber kaum, wie ein Review über bis 2020 publizierte Studien aufzeigt.
Ein Forscherteam um Joanna Moncrieff hat die gängige Theorie überprüft. Dazu wurden die wichtigsten relevanten Forschungsergebnisse zusammengefasst und bewertet. Die Forscher durchsuchten und bewerteten Studien, systematische Übersichten, Meta-Analysen und Analysen großer Datensätze bis Dezember 2020 (in den wichtigsten Datenbanken wie PubMed, EMBASE und PsycINFO).*
Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben
Untersuchungen in Metaanalysen mit Daten aus 17 Studien haben nun aufgezeigt, dass es keine überzeugenden Beweise dafür gibt, dass Depressionen mit niedrigeren Serotoninkonzentrationen oder ‑aktivitäten verbunden sind, oder durch diese verursacht werden. Stattdessen fand man Hinweise darauf, dass die langfristige Einnahme von Antidepressiva eine verringerte Serotoninkonzentration fördert. Das würde dann dafür sprechen, dass man versucht den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben, wenn Antidepressiva gegeben werden.
Die gängige Theorie beeinflusst auch die Entscheidung, ob Antidepressiva eingenommen oder fortgesetzt werden sollen, und kann Menschen davon abhalten, die Behandlung abzubrechen, was möglicherweise zu einer lebenslangen Abhängigkeit von diesen Medikamenten führt [14,15].
*Studien über Depressionen im Zusammenhang mit körperlichen Erkrankungen und spezifischen Subtypen von Depressionen (z. B. bipolare Depression) wurden ausgeschlossen.
Quellen:
- Moncrieff J et al.: The serotonin theory of depression: a systematic umbrella review of the evidence. Mol Psychiatry 2022; Epub Jul 20; https://www.nature.com/articles/s41380-022–01661‑0
- Coppen A. The biochemistry of affective disorders. Br J Psychiatry. 1967;113:1237–64.
- American Psychiatric Association. What Is Psychiatry? 2021. https://www.psychiatry.org/patients-families/what-is-psychiatry-menu.
- Cowen PJ, Browning M. What has serotonin to do with depression? World Psychiatry. 2015;14:158–60.
- Harmer CJ, Duman RS, Cowen PJ. How do antidepressants work? New perspectives for refining future treatment approaches. Lancet Psychiatry. 2017;4:409–18.
- Yohn CN, Gergues MM, Samuels BA. The role of 5‑HT receptors in depression. Mol Brain. 2017;10:28.
- Hahn A, Haeusler D, Kraus C, Höflich AS, Kranz GS, Baldinger P, et al. Attenuated serotonin transporter association between dorsal raphe and ventral striatum in major depression. Hum Brain Mapp. 2014;35:3857–66.
- Amidfar M, Colic L, Kim MWAY‑K. Biomarkers of major depression related to serotonin receptors. Curr Psychiatry Rev. 2018;14:239–44.
- Albert PR, Benkelfat C, Descarries L. The neurobiology of depression—revisiting the serotonin hypothesis. I. Cellular and molecular mechanisms. Philos Trans R Soc Lond B Biol Sci. 2012;367:2378–81.
- Pilkington PD, Reavley NJ, Jorm AF. The Australian public’s beliefs about the causes of depression: associated factors and changes over 16 years. J Affect Disord. 2013;150:356–62.
- Pescosolido BA, Martin JK, Long JS, Medina TR, Phelan JC, Link BG. A disease like any other? A decade of change in public reactions to schizophrenia, depression, and alcohol dependence. Am J Psychiatry. 2010;167:1321–30.
- Read J, Renton J, Harrop C, Geekie J, Dowrick C. A survey of UK general practitioners about depression, antidepressants and withdrawal: implementing the 2019 Public Health England report. Therapeutic Advances in. Psychopharmacology. 2020;10:204512532095012.
- Demasi M, Gøtzsche PC. Presentation of benefits and harms of antidepressants on websites: A cross-sectional study. Int J Risk Saf Med. 2020;31:53–65.
- Maund E, Dewar-Haggart R, Williams S, Bowers H, Geraghty AWA, Leydon G, et al. Barriers and facilitators to discontinuing antidepressant use: A systematic review and thematic synthesis. J Affect Disord. 2019;245:38–62.
- Eveleigh R, Speckens A, van Weel C, Oude Voshaar R, Lucassen P. Patients’ attitudes to discontinuing not-indicated long-term antidepressant use: barriers and facilitators. Therapeutic Advances in. Psychopharmacology. 2019;9:204512531987234.
- https://www.praxis-depesche.de/nachrichten/eine-frage-von-serotonin-stimmt-nicht/